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Die Legende vom Tannenbaum
In der Bergpredigt, wie bei Matthäus zu
lesen, ist auch von Bäumen die Rede gewesen.
Der Heiland hatte gesagt, dass Feigen nicht
reifen können auf Diestel zweigen,
dass Trauben nicht wüchsen am Dornenhange,
und das der Baum, der nicht
Früchte erlange, zu nichts wert erscheine auf
Erden, als abgehauen und
verbrannt zu werden. Und als er geendet, da
ist schon bald ein Streiten entstanden im nahen Wald.
Die Disteln, welche die Rede gehört, waren
über die Maßen empört und haben so recht überlegen gesagt: "Wir haben noch
immer den Eseln behagt!"
Die Dornen reckten die scharfen Spitzen und
sagten:"Das lassen wir nicht auf uns sitzen!"
Die gelben, aufgedunsenen Feigen zeigten ein sattes,
blasiertes Schweigen, und die Trauben blähten sich gar nicht
schlecht und knarrten geschwollen:
"So ist es recht!"
Nur ein zierlicher Tannenbaum stand
verschüchtert, rührte sich kaum,
horchte nicht auf das Rühmen und Klagen, hat
sich still und bescheiden betragen
und dachte und dachte in einem fort an des
Heilandes richtendes Wort.
Er fühlte sich ganz besonders getroffen; er
hatte kein Recht, auf Gnade zu hoffen;
die erste Axt musste ihn zerschlagen; er wusste
nur Tannenzapfen zu tragen;
Früchte hatte er nie gebracht, das hatte ihn
niedergeschlagen gemacht.
Als sich nun aber die Sonnen versteckt und
tiefes Dunkel die Erde bedeckte,
und ermüdet vom Reden und Klagen, die anderen
Bäume im Schlummer lagen,
wollte er nichts vom Schlummer wissen, hat
die Wurzeln aus dem Erdreich gerissen,
und unbemerkt in der stillen Nacht hat
er sich auf den Weg gemacht,
um nach dem strengen Heiland zu gehen
und milderes Urteil sich zu erflehen.
Und als er nach mühseligen Stunden endlich
den lang Gesuchten gefunden
und Ihm sein Leid recht herzlich geklagt, da
hat der Heiland lächelnd gesagt:
"Wisse, dass seit Beginn der Welt ein
jeglicher Fluch seinen Segen enthält,
und daß in jeglichem Segensspruch verborgen
liegt ein heimlicher Fluch!
Den Feigen brachte nur Fluch mein Segen, weil
sie jetzt sündigen Hochmut hegen;
die Trauben haben mir nicht gedankt, die
haben nur mit den Dornen gezankt;
die Disteln ließen sich nicht belehren,
die konnten den Fluch nicht zum Segen kehren;
du aber hast dich besser bedacht! Du hast aus
dem Fluch einen Segen gemacht!
Und dein Bittgang sei nicht umsonst gewagt!
Zwar - was gesagt ist, das bleibt gesagt.
Dein Schicksal ist jetzt nicht mehr zu
trennen vom Abhau'n und im Ofen-Verbrennen;
Aber; ich will dich erheben und ehren, ich
will einen rühmlichen Tod dir bescheren!
Dich soll kein Winterschlaf traurig
umschließen! Ein doppeltes Leben sollst du genießen!
Und auf deinen zierlichen Zweigen sollen die
herrlichsten Früchte sich zeigen,
soll man Lichter und Zierrat schau'n!
Freilich - erst wenn du abgehaun!
Sei wie ein Held, der für andere leidet, der
in blühender Jugend strahlend verscheidet.
Damit dein Leben, das kurze, doch reiche,
meinem irdischen Wandel gleiche!
Du sollst ein Bote des Friedens sein! Du
sollst glänzen im Heiligenschein!
Den Kindern sollst du Freude verkünden! Den
Sünder wecken aus seinen Sünden!
Gesang und Jubel soll dich um tönen! Mein
lieblichstes Fest, sollst Du lieblich verschönen!
Du bist von allen Bäumen hienieden der
gesegnetste!
Zieh hin in Frieden.
Von Marx Möller
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